Rezension: John Sinclair – Das Abenteuerspiel

Geisterjäger John Sinclair – Das Abenteuerspiel

Produkt: Geisterjäger John Sinclair – Das Abenteuerspiel
Produktart: Regelwerk
Autoren: Christian Günther, Markus Plötz, Mario Truant (Entwicklung und Konzeption) – Christian Günther, David Grashoff, Markus Plötz (Texte)
Verlag: Ulisses Spiele
Inhalt: Hardcover, Farbdruck, 240 Seiten, Lesebändchen, Farbposter
ISBN: 978-3-86889-023-5
Preis: 29,95€

… und ich muss direkt vorwegschicken: Gut, dass da noch das fast schon unauffällige Anhängsel „Das Abenteuerspiel“ dazu gedruckt wurde, denn nach Rollenspielmaßstäben könnte diese Rezension nur für alle Beteiligten in einer Katastrophe von biblischen Ausmaßen enden!
Regeln, die auf der Komplexitätsebene knapp über „4 gewinnt“ liegen und es selbst einem einbeinigen Rentner auf der Flucht vor Zombiehorden schwer machen, zu sterben, endlose Vorlesetexte, Abenteuer, die selbst den dunkelsten DSA-Zeiten eine Lektion in Railroading erteilen, Illustrationen, die trashiger fast nicht mehr gehen und ein merkwürdiges Konzept mit Erzähler- und Geisterjägerkarten?!? Dann heißt der Spielleiter noch „Erzähler“! Das kann ja nichts werden!

„Pfui! Bah!!!“ kann ich da als old-schooliger Sandboxer nur sagen!

Glücklicherweise muss ich das Regelwerk nicht an Rollenspielmaßstäben messen.
Auch habe ich nach einer trotzigen Protestphase in den 90ern, als ich keine Rollenspiele neben D&D (Classic), AD&D 2. Edition, Sternengarde (und verrückterweise „Ruf des Warlock“) habe gelten lassen, meinen Rollenspielhorizont um ein Vielfaches erweitert und bin nun bereit, mir das Hardcoverbuch im immer populärer werdenden Din A5-Format unvoreingenommen vorzuknöpfen.

Was will also – meiner Meinung nach – das Spiel erreichen?
Ulisses’ Ziel scheint hier zu sein mit den John Sinclair-Lesern eine riesige Gruppe von Leuten, die allgemein an Fantasy und Horror interessiert sind, aber wahrscheinlich noch nie in ihrem Leben mit Rollenspiel in Berührung gekommen sind, behutsam an diese Form von Spiel heranzuführen. Ob die „neuen“ Rollenspieler – Sorry! Abenteuerspieler dann Feuer fangen und sich auch an andere Systeme wagen, ist für mich persönlich erst einmal nebensächlich, wird aber sicher in den Verlagsüberlegungen eine Rolle spielen. Einen direkten Sprung zu DSA kann ich mir hier kaum vorstellen, aber über einen Umweg wie beispielsweise Hollow Earth Expedition (um mal verlagsnah zu bleiben) könnte ein Sprung zu DSA oder Pathfinder durchaus vorstellbar sein.

Für mich als Lehrer ist es völlig klar, wie ich vorgehen muss, um die JS-Leser zu JS-Abenteuerspielern zu machen. Ich muss Strukturen, die sie kennen, aufgreifen („Die Schüler da abholen, wo sie stehen“), und darf auf mehreren Ebenen keine zu hohen Eingangshürden aufbauen, um nicht von Anfang an zu frustrieren. Im Idealfall lasse ich sie das Ganze noch selbst erarbeiten und es kann eigentlich nichts mehr schief gehen. Richtig wünschenswert wäre dann, wenn nach dem schnellen Erlernen des Systems und nach den ersten Abenteuern der Schwierigkeitsgrad langsam angehoben würde (um einen Lerneffet zu erzielen), aber das wird vermutlich im Grundregelwerk noch nicht der Fall sein.

Schauen wir mal, ob die Autoren einen ähnlichen Weg gehen,

Ich blättere ein Rollenspielbuch ja gerne immer einmal durch, bevor ich beginne zu lesen. Dieses Durchblättern ist schon mal sehr erfreulich! Eine klare Gliederung, nicht zu überfrachtetes Layout und Illustrationen, die zwar nicht meinen persönlichen Geschmack treffen, im JS-Universum aber absolut richtig aufgehoben sind.

Hier haben wir schon den ersten Fall von „bekannte Strukturen nutzen“. Der bisherige Leser und zukünftige Abenteuerspieler bekommt genau die Illustrationen, die er von den Covern seiner Groschenromane kennt.
Bekannte Strukturen wären weiterhin unaufwändig, aber effektvoll erzählte Geschichten mit viel wörtlicher Rede – Check!
Ein ständiges Spiel mit dem Grusel, allerdings immer auf eher oberflächlicher Ebene – Check!
Geschichten in „unserer“ Welt mit der Prämisse, dass es Geister, Vampire, Werwölfe gibt… – Check!
Man trifft die Helden der Romane wie John Sinclair, Suko oder Jane Collins? – Check!

All das lässt sich mit nur etwas Blättern feststellen – meine erste Idee für den Ansatz des Spieles wurde also absolut erfüllt. Es gibt genügend bekannte Elemente zu entdecken, dass man sich nie „fremd“ vorkommt.

Kommen wir doch mal zu Inhalt und Regelgerüst:
An Hauptkapiteln bietet das Buch eine kurze Einleitung, ein Solo-Abenteuer, 25 Seiten mit Grundregeln, 19 Seiten mit Erschaffungsregeln für Charaktere – hier konsequent „Geisterjäger“ genannt, noch ein paar Regelseiten mit besonderen gegenständen und Aktionen, ein Abenteuer „Das Horrordorf“, Kreaturen der Finsternis und in „Himmel und Hölle“ ein paar Beispielcharaktere und Spielwerte für die Personen, die man aus den Romanen kennt.
Im Anhang sind dann noch einige spielkartenähnliche Karten, die im Spiel verwendet werden können – ja eigentlich sogar sollen. Glücklicherweise gibt es da jetzt schon zwei Zusatzboxen mit Karten, die Geisterjäger und Erzähler verwenden können. Auf www.john-sinclair.com lassen sie sich auch herunterladen.

Das (nicht spektakuläre, aber sich doch auf oberem Badewanne-Lese-Niveau befindetende Solo-Abenteuer und die Beispielszene aus einem fiktiven Abenteuer, sowie die leicht erste aufbereitete Regel-„Lektion“ könnte man in die Kategorie fassen – „Sich die Regeln selber erarbeiten.“ [Anm. des Rezensenten: Eine Sache, die auch im Hinblick auf Rollenspiele immer wichtiger erscheint – es gibt kaum noch Systeme, die sich drei Zwölfjährige im Laden kaufen, mit nach Hause nehmen und sich dann selber erarbeiten können. Drück ihnen DSA oder Pathfinder in die Hand und sie werden es am nächsten Tag zurückbringe, weil sie nur Bahnhof verstanden haben.]
Die Gefahr einer Frustration besteht hier kaum, denn alles ist klar und übersichtlich dargestellt und geschildert. Gut gelungen ist auch die Verzahnung der Texte, da immer wieder Elemnte verwendet werden, die später wieder aufgegriffen oder weitergesponnen werden.
Auch hier gehen die Macher wohl von derselben Grundüberlegung aus wie ich – Check!

Die Regeln sind schnell erklärt: Es gibt mit Körper, Geist und Seele drei Attribute, denen 13 Fertigkeiten wie Nahkampf, Okkultismus oder Intuition untergeordnet sind. Proben werden entweder nur auf das Attribut oder auf Attribut + Fertigkeit (evtl. plus Bonus) gewürfelt.
Die Werte im Attribut und in der Fertigkeit geben an wie viele Sechserwürfel gewürfelt werden dürfen. Jede „5“ und jede „6“ ist nun ein Erfolg – mit der Probe muss man jeweils eine bestimmte Anzahl an Erfolgen (üblicherweise zwischen 1 und 5) geschafft werden, dass sie als bestanden gilt.
Nun gibt es noch einen Ausdauerwert, der sich nach dem Körper-Attribut richtet und eine Art Trefferpunkte darstellt.
Jeder Charakter – sorry: „Geisterjäger“ – hat jetzt noch einen Beruf erlernt, der sich auch auf seine Fertigkeiten auswirkt und dann dürfen punkteweise Fertigkeiten und besondere Eigenschaften erkauft werden, verbunden mit einer anschließenden Runde durch die Asservatenkammer – fertig ist auch schon der Geisterjäger. Das geht alles wi
rklich fix.
Der durchschnittliche Rollenspieler wird die Regeln für „zu einfach, zu grobkörnig und zu wenig flexibel“ halten, aber ihr kennt ja mein Credo: „Weniger Regeln – mehr Spiel!“. Der simple Grundmechanismus kann mich also nicht schocken – im Gegenteil: für die Abenteuer, die mit ihm geleitet werden sollen, passt er wie die Faust aufs Auge.

Ziel der Geisterjäger – neben dem „In-die-Schranken-weisen“ des Bösen in der Welt – ist es, Schicksalspunkte zu sammeln, die entweder im Abenteuer verwendet werden können oder nach dem Abenteuer in Abenteuerpunkte umgewandelt werden dürfen, von denen man sich dann wieder Fertigkeiten, Ausrüstungsgegenstände oder Ähnliches zulegen kann.

Eine interessante Komponente sind noch die ESP (Erzähler-Schicksalspunkte), mit denen während des Spiels sowohl Erzähler, als auch Geisterjäger besondere Aktionen auslösen können. Aus Sicht der Spieler besteht hier die Möglichkeit durch gutes Spiel solche Aktionen, die sie dann als Karte erhalten, zu erspielen und sie später zu einem sinnvollen Moment auszuspielen. Die Aktionen des Erzählers sind, wenn wir mal ganz ehrlich sind, in den meisten Fällen reine Plot Devices und dienen dazu, die Spieler „auf Kurs zu halten“.

Das waren auch schon die gesamten Grundregeln. Schick!

Kommen wir zum beiliegenden Abenteuer: In drei Kapiteln Vorboten, Willkommen in Bignor und Das verlorene Dorf , die jeweils wieder in Szenen unterteilt sind, eröffnet sich vor den Geisterjägern ein mysteriöser Fall, der sie, auf Auftrag von Superintendent Powell, durch jede Menge abenteuerlicher Szenen jagt.
Das Abenteuer ist wirklich idiotensicher! Selbst ein dressiertes Meerschweinchen könnte es mit minimalem Vorbereitungsaufwand leiten. Es ist zu 99,9% linear, es wird genau geschildert, was der Erzähler an welcher Stelle warum wie machen soll. Die Spieler haben fast keine Chance irgendwie richtig zu versagen oder gar zu sterben.
Aus Rollenspiel-Spielleitersicht ein absolutes Fiasko, für den völlig unbeleckten JS-Leser, der Lust hat, seine Freunde ein Abenteuer im JS-Style erleben zu lassen, ebenso wie für den JS-Leser, der ein Abenteuer im JS-Style spielen will ohne direkt frustriert zu werden, weil er nichts kapiert oder dauernd sein Charakter stirbt, absolut perfekt.

Sehr nett finde ich die Randbemerkungen, die immer wieder an strategisch wichtigen Stellen platziert sind. Hier bekommt der Erzähler kleine Tipps und Kniffe, mit denen er sich besser in seine Personen hineinversetzen oder sie etwas interessanter gestalten kann. Eine wirklich schöne Idee.

Der „Monsterteil“ und der „NSC-Teil mit Beispielcharakteren“ geben genügend Hilfen und Beispiele, um bei der „Geisterjäger-Erschaffung“ hilfreich zu sein und den Fans zu zeigen wie ihre Helden aus den Romanen oder die finsteren Kreaturen durch die Spielregelbrille betrachtet aussehen, sind aber nicht sonderlich inspirierend. Schwamm drüber.

Was mir jetzt noch fehlt, ist ein kleines Kapitel, das dem Erzähler Mittel an die Hand gibt, eigene Abenteuer zu verfassen, aber das ist wahrscheinlich der eine Schritt zu weit, den man von diesem Regelwerk nicht erwarten kann und soll. Im Computerbereich würde man den Kundenkreis als „User“ bezeichnen. Leute, die etwas kaufen und damit umgehen können, aber sich nicht zwangsläufig für das technische Drumherum interessieren. Dafür gibt es ja die Programmierer, die Ulisses-Autoren, die sicher schon bald für neue Software in Sachen JS-Abenteuer sorgen werden…

Fazit:
Wenn ich im Auge behalte, was John Sinclair – Das Abenteuerspiel erreichen will, dann kann ich nur zu dem Schluss kommen, dass das gewünschte Konzept absolut greift. Die Regeln die man dem Erzähler an die Hand gibt, um den Geisterjägern ein Erlebnis ähnlich dem eines JS-Romans zu ermöglichen, sind sinnvoll erdacht und die gesamte Linie wird konsequent durchgezogen.

Kurz: Das, was das Spiel tun will, tut es ganz ausgezeichnet.

Daumen rauf!

Interessant wird sein, was die Zukunft bringen wird. Bleibt JS – Das Abenteuerspiel auf dem Stand einer Einstiegsdroge stehen oder entwickelt es sich selber als Spiel weiter? Beide Wege sind denkbar, beide haben ihre Vor- und Nachteile… Ich will es mal in Kaiser-Manier sagen: „Schau’n mer mal!“

Abschließend erneut die Warnung: Erwartet hier kein Rollenspiel, das Spielern und Spielleiter möglichst große Freiheiten gibt. Mit der Grundhaltung wird es der Reinfall des Jahres. Freut euch auf ein unkompliziertes Spiel, das – gerade von erfahrenen Spielleitern – fast gänzlich ohne Vorbereitung zu leiten ist und wirklich Spaß macht, wenn man sich als Spieler auf die Prämissen einlässt und einfach mal mit dem Strom treiben lässt.

Eine absolute Kaufempfehlung gibt es auch für alle fantasy- oder horror-affinen Menschen, die bisher ein merkwürdiges Bild von „Rollenspiel“ im Kopf haben. Sie können hier eigenständig die Regeln erlernen und es als „etwas andere Form von Brettspiel“ spielen, ohne mit quasireligiösen Verrückten, die immer hart an der BDSM-Szene vorbeischrammen und mit Verkleidung im Wald herumhüpfen in einen Topf geworfen zu werden.