[Rezension] SPACE 1889 – Der Merkur

Es kommt ja stetig neues Material für das viktorianísch-pulpige SPACE 1889 raus – der fette Merkur-Band ist schon vor etwa einem halben Jahr erschienen, aber ich habe so lange dran gelesen, dass ich jetzt erst zum Rezensieren komme.
Das Cover – (Co) Uhrwerk Verlag
Produkt: Der Merkur
System: SPACE 1889/ Ubiquity
Autor: Stefan Küppers (Chefredaktion)
Verlag: Uhrwerk
Aufmachung: gebunden
Erscheinungsjahr: 2015
Preis: 29,95 Euro
ISBN: 978-3-942012-56-0
Gestaltung
Ich bin ja ein Fan der sepia-pulpigen Gestaltung der deutschen SPACE-Produkte. Und wenn die Innen-Illus von Steffen Brand, Markus Holzum, Eric Lofgren und Rich Longmore gezeichnet werden, dann KANN das Teil gar nicht schlecht aussehen. Und obwohl 7 Autoren beteiligt sind, wirkt das ganze Buch wie aus einem Guss. Wirklich gelungen, das Ganze.
Inhalt
Das Buch besteht aus sechs Teilen und einem Index. Zuerst wird Der Merkur im Überblick dargestellt, dann folgerichtig Der Dämmerungsgürtel, Die Dunkle Seite und Die Heiße Seite. Anschließend gibt es ein Abenteuer von Dominik Hladek Die Reise um den Weltenfluss, bevor Anhänge mit Archetypen und Co. die Sache rund machen. Interessanterweise wirkt das Buch wie aus einem Guss, obwohl doch so der eine oder andere Autor Passagen dazu beitragen durfte.

So ist der Merkur als sonnennächster Planet, (der sich nicht in sich dreht, wie hier behauptet wird) natürlich brutal heiß – allerdings nur auf einer Seite, denn die der Sonne abgewandte Seite ist genauso unfassbar kalt wie die der Sonne zugewandte Seite heiß ist. Capisce? Diese Annahme setzt aber gleichermaßen, dass es einen „Dämmerungsgürtel“ gibt, der genau zwischen diesen beiden Zonen liegt, und in dem Leben möglich ist, ja es hat sich dort ein den Merkur umspannender Fluss mit einem darum herum liegenden Dschungel gebildet. Saucoole Idee.
Kolonialtechnisch herrschat auf dem Merkur eine ziemlich klare Situation: Die Briten erheben einfach nur aus Prestigegründen Anspruch auf den Merkur und sind mit einer starken Garnison vertreten. Die Deutschen verlegen sich eher auf die Forschung und versuchen eher im Geheimen, die Briten davon abzuhalten, sich alle Bodenschätze (vor allem die merkurischen Energiekristalle) unangefochten unter den Nagel zu reißen. Die Russen haben den Wettlauf um den Merkur zu Beginn verschlafen, sind nun aber – wenn schon nicht mit einem großen Heer – mit einigen wenigen Elitesoldaten und einer Nadelstich-Strategie auf dem kleinen Planeten vertreten. Alle anderen kann man erstmal vernachlässigen.

Den Dämmerungsgürtel kann man am ehesten mit einem klassischen Erdendschungel vergleichen, wobei nochmal nach den beiden Ufern unterschieden wird – logo, das Ufer der Hitzeseite weist andere Faktoren auf als das Ufer der Kälteseite.
Da ich ja auf einen übersichtlichen Aufbau stehe, begrüße ich es explizit, dass die drei Teile des Merkurs jeweils analog beschrieben werden, zuerst mit Hintergrundinfos, dann mit „Schätzen“, „Flora und Fauna“ und „Besonderen Orten“. Und da sind jeweils total abgefahrene Sachen dabei, das kann ich euch sagen. Ich bin beispielsweise ein großer Fan des „Linsengleiters“, der könnte glatt von mir sein.

Kältezone und Hitzezone stellen natürlich die Menschen jeweils von ihrer Seite vor das gleiche Problem – diese Regionen sind einfach lebensfeindlich und ohne „Hilfsmittel“ überlebt man nur Sekundenbruchteile, wobei clevererweise beide nochmal in Zonen eingeteilt sind mit unterschiedlichen Temperaturbereichen und Story-Ansätzen.
Und was ganz wichtig ist: Beide Zonen sind nicht nur clever für das Spiel aufbereitet, sondern lesen sich auch noch ganz ausgezeichnet. Da hat das Team echt ein gutes Händchen bewiesen. Besonders gut gefallen mir auch die Andeutungen, dass es auf beiden Halbkugeln noch unterirdische Regionen gibt, wo man sich bewegen kann – die würde ich nur allzu gerne mit Leben füllen.


Als jemand, der den Einfluss von Abenteuern auf ein System und ein Setting extrem hoch bewertet, muss ich mir natürlich Dominik Hladeks Merkur-Variante der Phileasson-Saga genauer ansehen und den Seifenkistenlesern erzählen, ob das Teil etwas taugt…
Okay, sehr gut ist erst einmal, dass man als Spielergruppe entscheiden kann, für welche Seite man antreten möchte – hier hat man die Wahl zwischen dem preußischen Generalmajor AD, Walther Friedrich von Bornsdorff und dem britischen Gentleman Cyril Montgomery Fitzgerald. Wer Asleif Phileasson und wer Beorn der Blender ist, dürft ihr selber entscheiden. Die Einführung ist sehr liebevoll gestaltet und findet im Travellers‘ Club statt. Hier gilt es nun die Seite zu wählen und sich mit den Statuten des Wettbewerbs vertraut zu machen. Beide Expeditionsteams haben gewisse Ressourcen zur Verfügung, die es zu Beginn gilt, so sinnvoll wie möglich zu verwenden.
Jetzt wollt ihr sicher, dass ich das Wort „Railroading“ erwähne, oder? Das kann ich auch gerne tun, denn eine Reise entlang eines Flusses verläuft zwangsläufig in einem bestimmten Rahmen. Ansonsten genießen die Spieler wirklich einige Freiheiten, auch wenn bestimmte Dinge bestimmte Ereignisse recht willkürlich auslösen. Und was noch wichtiger ist. Das Rennen wird nicht gehandwedelt, sondern man kann in drei Schritten jeweils regeltechnisch festgeklopft den Fortschritt der Wettfahrt feststellen UND es gibt Zufallsbegegnungen. Da kann ich nur sagen: „Rock’n’Roll!!!“
Nun kann es auf fünf unterschiedlichen Etappen plue einigen Nebensträngen einmal um den Merkur herum gehen und seid versichert – es ist immer etwas los! Ob die Truppe sich im Inneren eines Riesenammoniten nach einem Glimmkristall sucht, versucht, Jotunwurmeier zu stibitzen, oder einen durchgeknallten russischen (sorry, kasachischen) Wissenschaftler davon abhält, den kompletten Merkur aus der Bahn zu werfen – Langeweile kann nicht aufkommen.
Vor allem hat sich in Hinblick auf die Abenteuerstruktur seit besagter DSA-Kampagne getan und so wird hier immer dafür gesorgt, dass übersichtlich in Kästen geschildert wird, was die jeweils andere Expedition gerade tut, sodass ein fairer Wettkampf (größtenteils) gegeben ist.

Abschließend findet man dann noch im Anhang mit dem Pseudowissenschaftler, dem Automobilexperten, dem Prospektor, dem Gesellschafts-Söldner und dem Dampftechnik-Ingenieur fünf komplett neue und direkt spielbare Archetypen sowie etliche Artefakte und Ausrüstungsgegenstände wie den Zinnmoloch, der einerseits eine Möglichkeit darstellt, die heiße Seite zu besuchen und andererseits einen der wenigen Produktionsfehler beinhaltet, denn die komplette Beschriftung der Zeichnung wurde leider nicht übersetzt.
Mein heimlicher Lieblingsteil sind die abschließenden Mysterien des Merkur, denn hier werden einige Dinge angerissen, die man sich schon bei der Lektüre der einzelnen Orte gefragt hat: „Was hat es mit dem Mt. Edison auf sich?“ oder „Was ist mit den Eiskrabben los?“ Total klasse und viel kürzer und inspirierender geschrieben, als die klassischen DSA-Sternchen-Mysterien.

Fazit
Der wohl abgefahrenste Ort, an dem man bisher SPACE-Abenteuer spielen kann – hat vom „Look & Feel“ her etwas von der „Bruder-Reihe“ Hollow Earth Expedition, ist aber dann noch einen Tacken überdrehter, wenn auch nie übertrieben. Für mich die bisher beste Veröffentlichung für SPACE – und die bisher auf Deutsch erschienenen Sachen waren alle nicht übel, vielleicht gerade, weil leichte Jules Verne-Nachgeschmack hier besonders deutlich zu Tage tritt!

Auf besonderen Wunsch möchte ich noch den Satz anfügen: Das, was für die Illustrationen gilt, behält natürlich auch für den Text Gültigkeit. „Wenn die Texte von solchen Autoren wie Beckert, Hladek, John, Junge, Küppers, Lindner und Maciuszek geschrieben werden, kann das Teil sich gar nicht schlecht lesen.“ Okay, einigen von denen kann ich gar keine Werke zuordnen, aber mit Dominik, Martin, Uli und Stefan sind doch ein paar Jungs dabei, die durchaus schon gutes Rollenspielmaterial veröffentlicht haben.

Bewertung
4,5 von 5 merkurische Mysterien (ich weiß eigentlich gar nicht, warum ich nicht die „5“ zücke – vielleicht hätte ich gerne noch mehr coole Illustrationen, aber das ist wohl wieder eine finanzielle Frage…